Gilt es dem Arglosen, sich schuldig zu fühlen?
Du bist an einem Wendepunkt. Jeden Tag ist das so. An jedem einzelnen Tag triffst du Entscheidungen. An jedem einzelnen Tag gehst du in eine gewisse Richtung, oder in eine andere. Selbstverständlich ist es erklecklich für dich, mit dem Leben gut klarzukommen.
Ein jeder Bescheid hat eine Kompassrichtung.
Dein Entschluss darüber, in welches Café du heute morgen gehst, wird möglicherweise von einer gewissen Tragweite für dein Leben sein. Aber, hej, schau her, es gibt Wahloptionen, die du nicht veranschlagen kannst, und du hast da zu nehmen, was es gerade gibt. Du kannst dich nicht allzu viel über Entscheidungen aufhalten, anderenfalls wirst du eher mehr über dem Leben brüten denn es leben.
Du kannst nicht im Voraus wissen, in welchem Café du deiner Wahren Liebe begegnen oder durch einen Film-Makler entdeckt werden wirst, und ob sich dein ganzes Leben ändern wird - oder nicht.
Wie kann das Leben ausgerechnet werden? Es gibt keine Garantien.
Selbst hinterher könnt ihr euch nicht immer über den Sinn dessen, was eine ganze Geschichte in Wirklichkeit ist, klarwerden. Selbst ein bona fide-Irrtum ist kein Irrtum, denn ihr gewinnt Lebens-Erfahrung hinzu.
Sei es, es macht einen gewaltigen Unterschied, sei es, es tut dies nicht, im Augenblick des Entscheidens und gar im Rückblick – niemand weiß es. Hättest du eine andere Straße genommen, weißt du anschließend nicht, ob jene Straße die bessere oder die schlimmere gewesen wäre. Abermals kommen Wir auf das Unvorhersagbare und auf das Wundern, was hätte gewesen sein können, zu. War es insgesamt ohnedies Schicksal?
Entsinnst du dich der griechischen Mythologie, als die Vorhersage verlautbart wurde, der junge Sohn des Königs werde heranwachsen, um seinen Vater umzubringen und seine Mutter zur Frau zu nehmen? Allem was unternommen wurde, um diese Vorhersage nicht wahr werden zu lassen, zum Trotz, kam es nicht dazu, es zu verhindern. Das Königskind wurde auf einem Berg ausgesetzt, es sollte dort umkommen, der herzensgute Soldat, der diese Aufgabe ausführen sollte, übergab das Königskind einem anderen Königspaar, dort wuchs es an Kindes Statt auf.
Als der Junge das Mannesalter erreichte, erzählten ihm die Orakel von der vor langer Zeit ausgesprochenen Prophezeiung. Jetzt, dieser Vorhersage gewahr, und in dem Verlangen begriffen, ihr zu entfliehen, begibt sich Ödipus von dem Königspaar fort, welches er als seine Eltern ansieht, er flieht – möchtet ihr nicht ebenso dann und wann ein Orakel zugesprochen bekommen?
Als der junge Prinz von seinem Geschick wegrennt – im Glauben, er befinde sich auf einem Weg, der ihn von seinem Los wegflüchten lässt –, kommt es zu einer ernstlichen Auseinandersetzung zwischen ihm und einem älteren Mann, und auf diese Weise erfüllt der Heranwachsende, Ödipus, unwissentlich die Prophezeiung und bringt seinen eigenen Vater um. Ironischerweise, ist es nicht so?, hat Ödipus, im Trachten nach eben selbiger Gütigkeit, wider sein Geschick Winkelzüge an den Tag zu legen, kopfüber die Straße nach dorthin eingeschlagen, wo die Prophezeiung zur Erfüllung gelangt.
Ödipus übernimmt nun freudig den Thron des toten Königs und gibt der Königswitwe die Hand – welche ihn nicht erkennt – zur Vermählung, sie ist seine wirkliche Mutter, Jocasta. Mithin, was mit ganzem Herzen als frohe Botschaft aufgenommen wird – dabei, nun, vermag man sich freilich zu irren.
Ödipus hat zu der Zeit selbstverständlich keine Ahnung, was wirklich vor sich geht.
Steht es im Leben dem arglos auftretenden Menschen an, sich schuldig zu fühlen? Ist Ödipus schuldig? Die griechische Mythologie, Freud und die äußerliche Welt scheinen zu der Haltung, Ödipus sei schuldig, Ja zu sagen.
Freud brachte die Auffassung ein, Menschen folgten ihrem Unterbewussten, und trügen ohne ferneren Bezug Schuld. Demnach scheint die Welt, ja in der Tat, ein lautstarkes Ja vorzubringen. Zucke mit den Achseln und gehe weiter.
Um die Geschichte zu Ende zu bringen – Jahre später dann, als Ödipus' Ehefrau und Mutter herausfindet, dass sie nicht bloß mit ihrem eigenen Sohn, dass sie zudem mit dem Mörder ihres Gatten vermählt ist, erhängt sie sich.
Und Ödipus sticht sich die Augen aus.
Meint ihr wirklich, im Namen eines derart niedrig und ordinär angesetzten Konzeptes wie demjenigen von Schuld gehörten dermaßen hohe Kosten entrichtet? Ich sage nein. Alles, wessen ein Menschenseinswesen schuldig sein kann, ist, ein Menschenwesen zu sein, das auf der Erde am Leben ist, wo und wann sich ja gar dem Ahnungs- und Arglosen allerlei Dinge zutragen können und zutragen.
Translated by: theophilPermanent link to this Heavenletter: https://heavenletters.org/gilt-es-dem-arglosen-sich-schuldig-zu-fuehlen.html - Thank you for including this when publishing this Heavenletter elsewhere.
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