OHNE DICH
Diese Zeit deines Aufenthalts auf der Erde ist in der Weite der Ewigkeit bloß eine Minute. Nicht einmal eine Minute. Ein Augenblinzeln.
Also, was ist so Wertvolles an etwas derart Kurzwährendem, fragst du. Welchen Unterschied macht es, dass du auf der Erde erscheinst, oder nicht erscheinst? Und sobald dein Körper von der Erde fortgeht und vergessen ist, was hat das gemacht? Sofern dieses weltliche Leben schier ein Traum ist, worin liegt seine Bedeutung? Gibt es eine Bedeutung?
Ihr könnt ein Buch lesen, Geliebte. Es kann sich um ein Buch mit Fiktivem handeln. Eure Augen sind nicht mehr davon wegzubekommen. Und wenn ihr zur letzten Seite umblättert, ist das Buch vorbei. Gleichwohl, würdet ihr sagen, das Buch habe keine Bedeutung?
Für euch hielt es eine große Wichtigkeit inne. Es war für euch bedeutsam, als ihr es last. Ihr wolltet wissen, was geschah. Ihr wolltet die Charaktere erfassen. Ihr gelangtet dazu, sie zu lieben. Selbst die Unwerten hielten in eurem Herzen eine gewisse Wertigkeit.
Ihr könntet sagen, das Buch sei für euch nicht wesentlich gewesen, jedoch gab es da eine Essenz von ihm, was wesentlich war. Es hatte für euch Sinn. Es rührte etwas.
Mit dem Roman begabt ihr euch auf die Reise, ohne den Stuhl zu verlassen. Ihr reistet zu einer anderen Zeit oder einem anderen Ort. Ihr begegnetet Menschen und Situationen, denen ihr zuvor nie begegnet wart. Ihr packtet etwas an, was ihr zuvor nicht angepackt habt. Eine Zeitlang lebt ihr ein Leben, was ihr zuvor nie gelebt habt.
Wenn ihr mit einem guten Buch zuende seid, kann es sein, ihr seufzt, froh und unter Bedauern, dass es vorüber ist. Die Geschichte hat euch mit etwas von sich hinterlassen. Vielleicht vergesst ihr das Buch, die Charaktere. Vielleicht seinen Titel. Vielleicht vergesst ihr, dass ihr es je last, indes hat es sein unauslöschliches Kennzeichen auf euch hinterlassen. Ihr habt nicht zu wissen, wo es eingezeichnet ist und was es bewirkt. Ihr habt nicht einmal zu wissen, dass es seine Markierung anbrachte.
Es wird wie ein Refrain von Musik, derart köstlich gespielt, fast unwahrnehmbar, ein vages Rühren, ein Nicht-Andenken.
Und so ist das Menschen-Leben. Es bewirkt keinen Unterschied, und gleichwohl ist es der gesamte Unterschied in der Welt. In der Welt. Für die Welt. Mir.
Das Leben ohne dich hätte ein anderes Leben zu sein. Du kennst es nicht, du wusstest es vielleicht nie, was du alles bewirktest und was du nach wie vor bewirkst. Selbst wenn die Andenken an dich verschwunden sind, bist du nicht vorbei. Natürlich bist du unbesehen dessen ein ganzes unversehrtes Seinswesen, und, wie bei der guten Erzählung, hast du deine Markierung in der Welt angebracht.
Welche Charaktere du auch einnahmst, du hast sie gut gespielt. Ob es nun um einen Helden oder um einen Schurken ging, niemand konnte ihn so gut spielen wie du. Wie kann ein Seinswesen derart zahlreiche Rollen spielen, fragst du, und was kann deren Bedeutsamkeit ausmachen, sobald die Rolle nachlässt?
Niemand hat daran erinnert zu werden, dass er seinen Part gespielt hat. Alle Programmhefte können abhanden kommen, und das macht nichts aus.
Ihr wart hier. Und etwas trug sich zu, weil ihr hier wart. Ihr wart eine Masche, die ihr in dem Gewebe des Universums gewoben habt. Die gesamte Erfahrung auf der Erde ist bloß ein Traum, aber was für einer! Wer hätte sich ein solches Abenteuer ausdenken können, derart viele gleichzeitige Abenteuer, derart viele Abenteuer, die von so vielen Gesichtspunkten her gesehen werden, endlose Abenteuer, die neue Besetzungen der Charaktere und neue Stücke haben, allesamt neu, niemals zuvor betrachtet.
Alle Stücke sind Moralstücke, und alle Stücke haben ihre Geschichte zu erzählen. Die Besetzung geht in die Tausende, in die Billionen, mehr als in die Billionen. Alle Stücke werden durch jedes andere Stück beeinflusst, und die gesamte Anordnung des Lebens wäre ohne dich nicht die gleiche.